Ornamentierte Konstruktion – konstruierte Ornamentierung
Genealogie und Ausdruck einer Konstruktionssprache der textilen Tektonik

Dissertantin: Michaela Tomaselli
Betreuer: Thomas Hasler

Bekleidung und Konstruktion, Postsparkasse Otto Wagner © Michaela Tomaselli
„Konstruieren ist Dichten! Heut’ führ ich die Feder am Schreibtisch spazieren und sage: Dichten ist Konstruieren!“1 Heinrich Seidel, Dichter und Konstrukteur des Anhalterbahnhofs Berlin – der mit 62,5 Metern Spannweite damals weitesten und höchsten Halle Europas –, verdeutlicht gegen Ende des 19. Jahrhunderts, wie sich eine spezifische Konstruktionsweise als eigenständige Sprache auffassen lässt.

Die Sprache der Konstruktion umfasst die gesamte Breite der Bedingungen, die zu konstruktiven Wirklichkeiten führen. Gemeint sind die Zusammenhänge zwischen architekturtheoretischem Umfeld und bautechnologischen Rahmenbedingungen wie handwerkliche Praktiken, Mechanisierung, Industrialisierung und Computerisierung, sowie ökonomische Faktoren, verfügbare Baustoffe, deren Materialeigenschaften, konstruktive Details und die Art und Weise, wie etwas tektonisch gefügt wird.

Die Entwicklung der textilen Tektonik – der Wandel der Beziehung zwischen Traggerüst und Bekleidung – kann gelesen werden als eine Ansammlung von ineinandergreifenden, sich aufeinander beziehenden Geschichten, als Aufstieg und Niedergang einer Konstruktionssprache mit ihrer eigenen inhärenten Struktur aus Vokabular, Grammatik und Syntax. Dies ermöglicht ein Betrachten der Zusammenhänge zwischen theoretischen Diskursen und bautechnologischen Entwicklungen, dem  Wandel der Konstruktionsweise, deren materieller Ausformulierung und der daraus resultierenden Atmosphäre – dem Ausdruck.

Eine am Beispiel ausgesuchter Bauwerke von Otto Wagner, Josef Hoffmann und Louis Sullivan illustrierte Systemik – mit Originalquellen unterlegte Analysen von Konstruktionen und bautechnologischen Entwicklungen – zeigt, dass die Fragen nach Ausdruck und Genealogie einer Konstruktionssprache weit mehr als nur von historischem Interesse sind. Technische Lösungen können aus ihrer Entwicklungszeit heraus verstanden, ihre Potenziale und Defizite für aktuelle Entwicklungen genutzt werden. Die Konstruktionssprache der textilen Tektonik bildet ein Werkzeug, Entwurfs- und Beurteilungskriterien für ornamentale Tendenzen der zeitgenössischen Architektur zu definieren und für deren Materialwirkung, den Ausdruck der Konstruktion zu sensibilisieren.

Ziel dieser Untersuchung ist die Verknüpfung von theoretischen Manifesten – von Ruskin über Bötticher bis zu Semper2 – mit Bautechnik und  Baukonstruktion. Die Studie zeigt die Manifestation architekturtheoretischer Hintergründe und die bautechnische Entwicklung der Inkrustierung in den Konstruktionen Wagners, Hoffmanns und Sullivans sowie deren technische Produktion, mit allen Problemen und Qualitäten der damaligen Herstellungsmethoden.

Barthes postuliert in Die Sprache der Mode die „Möglichkeit einer immanenten Analyse anderer Zeichensysteme als der Sprache“.3 Übertragen auf das Bauen erlaubt diese Methode eine schrittweise Rekonstruktion der Sprache der textilen Tektonik.

Das dreifache Sprachgefüge der Konstruktionen setzt sich zusammen aus realer, beschriebener und  abgebildeter Konstruktion – und aus ihrem Effekt, dem Ausdruck. Das reale Gebäude, die reale Konstruktion wird mit der beschriebenen Konstruktion, mit originalen Ausschreibungsunterlagen, Korrespondenz mit Baufirmen, Wettbewerbs- und Baubeschreibungen, Rezensionen, bautechnischen Entwicklungen, Patentierungen und Untersuchungsergebnissen im Zuge der Restaurierung  verglichen, um die daraus entstehende Materialwirkung, den Ausdruck zu ergründen. Die abgebildete Konstruktion  verdeutlicht den Zusammenhang zwischen zwei- und dreidimensionaler Repräsentation. Fotografien und originale Konstruktionspläne werden eigens angefertigten 3D-Modellen und isometrischen Darstellungen gegenübergestellt, um die Verbindung zwischen Konstruktion und Bekleidung lesbar und erlebbar zu machen.

Konstanz und Relevanz der Bautechnik auf aktuelle Entwicklungen werden dabei deutlich. Bewusstsein für diese Zusammenhänge zu schaffen, bedeutet eine Konstruktionssprache der textilen Tektonik und eine Kultur des Ausdrucks zu etablieren.

1 Heinrich Seidel, Gesammelte Werke. Neue wohlfeile Ausg., Band 5, Phantasiestücke: Musik der armen Leute: Gedichte (Stuttgart: J.G. Cotta´sche Buchhandlung, 1925), 408.
2 Vgl. Edward R. Ford, The Architectural Detail (New York: Princeton Architectural Press, 2011), 132 ff.
3 Roland Barthes, Die Sprache der Mode, 9. Auflage (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2014), Klappentext